Seiler Linhart Architekten bauen das Dorf Sachseln weiter. Das Projekt zeigt entlang von sieben Punkten exemplarisch, wie man auf dem Land klug verdichten kann.
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Wer Verdichtung hört, denkt an die Stadt. Doch auch auf dem Land gilt das Gebot, die Häuser näher zusammenzurücken und höher zu bauen. Projekte aber, die das im grossen Stil tun, ohne die meist sensible Nachbarschaft zu tangieren, muss man lange suchen. Eine Ausnahme ist die Überbauung, die Seiler Linhart Architekten in Sachseln am Sarnersee geplant haben. Die drei Neubauten und der Umbau des ‹Spalihauses› behandeln Themen, die für jede Dorfverdichtung exemplarisch sind. «Ein Grossteil der Schweiz ist immer noch ländlich geprägt», sagt Architekt Søren Linhart. «Dort müssen wir massvoll verdichten.» Entscheidend ist eine Mischung aus Sorgfalt und Pragmatismus. Was das bedeutet, zeigt das Projekt in Sachseln anhand von sieben Punkten, die auch auf kleinere Ortschaften übertragbar sind.
1. Bauherrschaft: Verantwortung wahrnehmen
Die kluge Verdichtung beginnt mit einer klugen Bauherrschaft. Die Überbauung liegt an der Hauptstrasse von Sachseln, wo die Möbelfirma Reinhard während fast 120 Jahren produzierte. 2019 ging der Betrieb in Konkurs, und die vier Geschwister standen vor der Frage: Was nun? Eine Tochter entschied, auf einem Teil des Areals zu verdichten, und führte dafür einen kleinen Studienauftrag durch, bei dem auch die Denkmalpflege in der Jury sass. Ein Konkurrenzverfahren ist ein Schlüssel für gute Bauqualität und überraschende Lösungen. Das Resultat überzeugte auch die Nachbarn – es gingen keine Einsprachen ein. Geholfen hat dem Projekt, dass die Bauherrschaft langfristig denkt und keine Maximalrendite erwirtschaften muss, weil die Gebäude in der Familie bleiben. Das Vorgehen zahlte sich aus: Während andere Neubauten im Ort auch nach Fertigstellung auf Interessenten warten, waren die Wohnungen ein halbes Jahr vor dem Bezugstermin vermietet.
2. Mobilität: Das Auto mitdenken
Das Auto ist das wichtigste Fortbewegungsmittel auf dem Land, das vermag auch das am weitesten verzweigte ÖV-Netz der Welt nicht zu ändern. Gefragt ist ein vernünftiger Umgang damit, auch architektonisch. In Sachseln ist die Zahl der Abstellplätze auf acht beschränkt, einen weniger, als das Ensemble Wohnungen hat. Platz für Zweit- und Drittautos gibt es nicht. Die Architekten gruben keine teure Tiefgarage, deren Bau viel CO2 ausstösst und die den Boden versiegelt, sondern integrieren die Parkplätze pragmatisch im Erdgeschoss zweier Neubauten. Das erspart auch platzfressende Rampen. Ornamental gelochte Falttore lassen die Einfahrten in der Architektur verschwinden. Gäste können auf dem Vorplatz parkieren, auch an der Strasse kann man kurz halten und etwas ausladen. Die Architekten gehen unverkrampft um mit dem Auto. Und sparen erst noch Geld, das sie stattdessen für Architektur ausgeben können.
3. Städtebau: Subtil verdichten
Verdichtung auf dem Land muss ein Dilemma lösen: Es gilt, grössere Bauvolumen im Quartier unterzubringen – ohne Massstabssprung, wie er in der Stadt möglich ist. Die Architekten müssen die Dichte auf ein dorfverträgliches Mass herunterbrechen. Als Einzige im Wettbewerb haben Seiler Linhart drei statt zwei Neubauten vorgeschlagen, die einen Altbau ersetzen. «Das ist zwar ökonomisch weniger effizient, aber der Ortsbau war für uns massgebend.» Die Gebäude orientieren sich an der Umgebung – bis hin zum Schrägdach. Sie stehen dicht beieinander und formen verschiedene Aussenräume, die alle öffentlich zugänglich sind. Feine Niveausprünge und Materialwechsel von Kies über Asphalt bis Pflasterstein stufen den Grad an Privatheit ab.
Der dichte Städtebau an der Strasse hilft, deren Lärm abzumildern – ein Problem, das nicht nur die Städte plagt. Das Landschaftskonzept des Büros Freiraumarchitektur, das bereits im Wettbewerb mit dabei war, sieht auf kleinstem Raum viel Abwechslung vor: von der wilden Wiese am Rand der Parzelle bis zu Blumenbeeten auf dem zentralen Platz. Mit dieser fein gesponnenen Vielfalt schafft die Überbauung Räume, die zwischen Urbanität und Ländlichkeit vermitteln.
4. Umbau: Den Bestand pflegen und weiterbauen
Wer auf dem Dorf baut, baut in einem Bestand, der vom denkmalgeschützten Objekt bis zur zerfallenen Scheune reicht. Diesen Bestand zu erhalten, erfordert Wertschätzung und Disziplin. Der Altbau an der Strasse – laut Søren Linhart einer der ältesten im Kanton – ist ein typisches Obwaldner Haus mit massivem Sockel und Schindelkleid. Die Bauherrschaft liess das ‹Spalihaus› unter Schutz stellen. Das schränkte zwar den Spielraum der Architekten ein, dafür erhielten sie Subventionen für den Umbau. Seiler Linhart haben den Altbau neu geschindelt und ihn von unsensiblen Eingriffen befreit. Das alte dunkle Balkenwerk ergänzten sie durch helles Holz als Kontrast und richteten darin eine Wohnung ein.
Umbauen heisst reagieren. Innen dämmten die Architekten die Fassade mit Holzwolle nach, die noch brauchbaren Fenster beliessen sie. Über der Küche schnitten sie ein Loch in die Decke und schufen so einen zweigeschossigen Raum, der an alte Rauchküchen erinnert. Auch den kleinen Schuppen neben dem Altbau werden Seiler Linhart sanft renovieren, damit man darin einen Veloraum oder eine kleine Werkstatt einrichten kann. Es sind diese Überbleibsel der alten Dorfstruktur, die den Geist des Orts prägen – nicht als romantischer Ballenberg, sondern für den täglichen Gebrauch zusammen mit den Neubauten.
5. Neubau: Den Charakter stärken
Wie baut man neu, wo knüpft man an, wie stark geht man in diesem Kontext auf früher ein? Die Architekten wählten verschiedene Strategien. An der Strasse entwarfen sie einen Gewerbebau, der den Massstab des Altbaus fortführt und stark auf die Scheunenarchitektur bezogen ist. Ein Tor öffnet sich wie bei einem Heuschober zur Strasse und zum See, eine Veranda erschliesst den Raum dahinter. Die beiden vier- und fünfgeschossigen Neubauten daneben schlagen zeitgenössischere und dichtere Töne an, lassen sich aber von den bestehenden Melodien leiten. Søren Linhart: «Wir müssen nicht zurück in die Geschichte wie Hans Kollhoff, es gibt eine Haltung dazwischen.»
Gekonnt modulieren Seiler Linhart zwischen Alt und Neu, Gross und Klein, Nutzen und Schönheit, Idyll und Dichte. Lisenen gliedern die Holzfassade und integrieren die Loggien. Lamellen unter dem Dach kaschieren beim höheren Haus das fünfte Geschoss. Feine Farbtöne unterscheiden die Bauten voneinander. Jedes Haus hat einen separaten Eingang und einen eigenen Vorplatz. Beim Verdichten im ländlichen Raum sind die Eigenheiten, Unterschiede und verschiedenen Massstäbe zentral. «Wir wollten ein Stück Dorf bauen, keine Siedlung», sagt Linhart. Die Architekten besinnen sich auf einen bestimmten Charakter, auch wenn Sachseln teilweise städtische und industrielle Elemente aufweist. In ländlichen Gemeinden, die heterogen gewachsen sind und ihre Identität zu verlieren drohen, ist das eine sinnvolle, weil klare Strategie.
6. Konstruktion: Das Handwerk zelebrieren
Das Material zur Verdichtung des Dorfs ist Holz. Der traditionelle, aber ebenso hochtechnisierte Baustoff schlägt den Bogen von früher zu heute. Mal liegen die Bretter in der Fassade vertikal, mal horizontal. Die Stützen, Balken und Decken aus Holz prägen die Wohnungen. Der Stützenraster ermöglicht Grundrisse von 2½ bis 4½ Zimmern. Die Holzbauten stehen auf einem Betonsockel, der die Topografie überwindet und die Bauten verbindet. Seiler Linhart bearbeiten den Sockel virtuos wie eine Skulptur und formen daraus eine Treppe, eine Bank oder einen Brunnen. Und bauen so jedes Mal einen kleinen Ort.
Wo es nicht auffällt, haben die Architekten gespart, etwa bei den günstig betonierten Treppenhäusern. «Der ökonomische Druck war enorm», sagt Søren Linhart. Mit viel Planungswillen und Einfallsreichtum hat sein Büro bezahlbare Lösungen entworfen, die das Handwerk zelebrieren. Der Massstab auf dem Dorf ist kleiner als in der Stadt. Umso mehr fallen die liebevoll geplanten Details ins Auge: die verspiegelten Haustechnikschränke, die Fussabtreter aus Eiche oder der Wasserspeier als Drache. Solche Finessen erzählen die Geschichten eines Orts weiter. Der finanzielle Spielraum dafür wird aber immer enger, wie Linhart zugibt: «Mit den aktuellen Preissteigerungen wären viele Details heute wohl nicht mehr realisierbar.»
7. Gesellschaft: Die richtige Mischung finden
Noch mehr als in der Stadt sind auf dem Dorf Konzepte gefragt, die Gemeinschaft und Nachbarschaft stärken. Der Weg dahin ist ein anderer, subtilerer in einer Gegend, in der die Menschen beim Thema Wohnen zuerst an das Einfamilienhaus denken. Wichtig ist ein möglichst breites Raumprogramm. In Sachseln reicht dieses von verschiedenen Wohnungsgrössen bis zum Gewerberaum, in dem sich ein Yoga- und Bewegungsstudio eingemietet hat. Jede Wohnung erstreckt sich über ein ganzes Geschoss, was auch Hüslimenschen von den Mietwohnungen überzeugt. Der Preis ist bezahlbar: 3½ Zimmer kosten rund 1800 Franken pro Monat.
Auf dem Platz in der Mitte der Häuser trifft sich, wer will, aber ohne Kollektivgroove. Die Waschküche daneben können die Bewohnerinnen abends zum Gemeinschaftsraum umfunktionieren. So schafft die Architektur ein niederschwelliges Angebot für ein Miteinander, ohne das Budget oder die Bauherrschaft zu überfordern. Schliesslich verdichten die Neubauten den Ort nicht nur baulich, sondern auch sozial. Die 4½-Zimmer-Wohnung misst vernünftige 87 Quadratmeter. «Auf dem Land geht der Trend immer noch hin zu grossen Wohnungen wie im Stockwerkeigentum», so Linhart. Die Bauten beim ‹Spalihaus› überzeugen mit gut statt gross geschnittenen Grundrissen.
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