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Der Abriss gerät in Verruf – die Schweiz entdeckt den Umbau

Der Ersatzneubau galt lange als Königsweg zur Verdichtung. Doch 500 Kilo Bauschutt pro Sekunde passen schlecht zu Klimaschutz und Denkmalpflege. Nun denken Architektinnen und Architekten um.

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Stell dir vor, Zürich verschwindet und keiner merkt es. Am Anfang der Limmatstrasse werden derzeit rund ein Dutzend Bauten dem Erdboden gleich gemacht und neu gebaut. Sobald sich der Staub gelegt hat und der Baulärm verklungen ist, fällt das aber den wenigsten auf. Entstanden sind keine Hochhäuser, sondern gewöhnliche Blockrandbauten, die sich zum Teil kaum von ihren Vorgängern unterscheiden – abgesehen von den höheren Mietpreisen und den grösser geschnittenen Grundrissen.
Die Abbruchdebatte entzündet sich meistens an öffentlichen Wahrzeichen wie der Zentralbibliothek in Luzern oder dem Kongresshaus in Zürich, die in den letzten Jahren nach Protesten umgebaut statt rückgebaut wurden. Aber die meisten Häuser verschwinden sang und klanglos. Niemand kettet sich an ihre Stützen, wenn die Abrisszange zubeisst. Und doch ist ihr Verschwinden oft ein Verlust. In mehrfacher Hinsicht.
Das Bauen ist eine gewaltige Materialschlacht. 500 Kilogramm Baumaterial werden in der Schweiz jede Sekunde ausgebrochen, abgetragen oder weggesprengt. Am stärksten betroffen waren lange Häuser aus den 1920er-, 30er- und 40er-Jahren. Immer mehr rücken jedoch die Nachkriegsbauten in den Fokus. Und selbst bei den jüngeren Gebäuden, die noch keine 50 Jahre stehen, steigt die Abbruchquote kontinuierlich an.
Es gibt tausend Gründe, die eine Bauherrschaft zum Ersatzneubau bewegen, alle voran die Ökonomie. Wenn die Sanierungskosten 70 Prozent eines Neubaus übersteigen, lohnt sich ein Ersatz, lautet eine Faustregel. Umso mehr, wenn es eine Nutzungsreserve gibt, man also mehr bauen darf, als bereits gebaut ist. Auch Energievorschriften, Komfortansprüche, Behindertengerechtigkeit oder das Verdichtungsgebot begünstigen den Rückbau.
Der Ersatzneubau setzt eine gute Portion Optimismus und ein wenig Arroganz voraus: Wir können das besser als damals. Einst wollte man deshalb sogar die Zürcher Altstadt abreissen. Vor allem aber: Ein Ersatzneubau ist die bequemere Lösung, weil man sich nicht mit den Unsicherheiten und Überraschungen eines Altbaus auseinandersetzen muss. Doch auch mit einem Umbau, einer Erweiterung oder einer Aufstockung lassen sich die obigen Ziele oft erreichen.

Ersatzneubau als Allheilmittel
Vor zehn Jahren war der Ersatzneubau hoch im Kurs. Damals galt er als Allheilmittel, um den Energieverbrauch zu reduzieren und das Bevölkerungswachstum aufzunehmen. «Das Stadtwachstum wurde zu einem grossen Teil mit Ersatzneubau bewältigt», heisst es in der Studie «Zürich baut sich neu» von 2015. Bereits damals wohnten sieben Prozent der Stadtbevölkerung in einem Ersatzneubau.
Heute haben sich die Vorzeichen umgekehrt, der Zeitgeist gedreht. Der Abbruch ist immer stärker negativ konnotiert, wie etwa die Auseinandersetzung um die Überbauung auf dem Maag-Areal in Zürich zeigt, für die im August das Baugesuch eingereicht wurde. Das liegt in erster Linie am Klimaschutz, der die Anforderungen an das Bauen verschoben hat. Weil Gebäude im Betrieb immer sparsamer werden, gewinnen die graue Energie und die Treibhausgase der Erstellung an Bedeutung. Wer ein Haus umbaut statt abreisst spart viele CO2-Emissionen ein, weil der grösste Teil davon in der Tragstruktur steckt.
Auch Fragen um Ressourcenknappheit und Kreislaufwirtschaft sprechen für den Umbau. Laut dem Bundesamt für Umwelt werden rund 70 Prozent der Rückbaumaterialien wiederverwertet. Der Rest wird auf Deponien gelagert oder verbrannt. Die Bauwirtschaft hat Fortschritte gemacht zum Beispiel beim Recyclingbeton. Bauteilbörsen bieten ganze Elemente wie Stützen, Fenster oder Toiletten an zur Wiederverwendung. Doch der Weg zu einem kreislaufgerechten Bauen ist noch sehr weit. Am sparsamsten ist es immer noch, umzubauen. Oder gar nicht zu bauen.

Die Lust am Bestand entdecken
Es gibt neben der Ökologie noch andere Gründe, die für den Umbau statt den Abbruch sprechen. Die Bauten der Boomjahre kommen langsam in ein Alter, in dem die Bauherrschaft entscheiden muss: Totalsanierung oder Ersatzneubau. Da diese Epoche oft noch nicht auf dem Radar der Denkmalpflege ist, gehen wichtige Zeitzeugen verloren. Doch selbst durchschnittliche Bauten erzählen die Geschichte eines Ortes. Ein Abbruch löscht diese Erinnerungen aus.
Selbstverständlich: Der Wandel gehört zum Lauf der Zeit. Städte verändern sich und sollten nicht konserviert werden wie Ausstellungsobjekte in einem Museum. Der Abbruch ist Teil des Lebenslaufs des Bauwerks Schweiz. Wer Neues schaffen will, muss Altes zerstören, wenn das Siedlungsgebiet nicht auf der grünen Wiese wuchern soll. Viele Bauten können nur schlecht weitergenutzt werden, weil ihre Struktur unflexibel oder marode ist. Und leerstehende Gammelhäuser bringen auch dem Klima nichts. Es braucht einen Neuanfang.
Doch auch Umbauen bedeutet nicht Stillstand. Immer mehr Bauherren und Architektinnen entdecken deshalb die Lust am Bestand, auch wenn dieser kein Denkmalobjekt ist. Früher machte der Architekt tabula rasa, um seine grosse Idee zu verwirklichen. Heute kann er sein Prestige steigern, indem er sich in das Vorhandene eindenkt und den Faden weiterspinnt. Die französischen Architekten Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal haben sich einen Namen gemacht als Weiterbauer und dafür 2021 den Pritzker-Preis erhalten.
Auch die Schweiz entdeckt den Wert der Transformation. Es ist kein Zufall, dass die Zeitschrift Hochparterre letztes Jahr beim Architektur-Preis «die Besten» allesamt Umbauten prämierte. Der Spielraum ist gross. Das Kurtheater in Baden wurde renoviert und angebaut, eine Schule in Cham aufgestockt und erweitert, die ein Kilometer lange Wohnsiedlung Le Lignon in Genf wieder fit gemacht für die Zukunft. In Winterthur wurde ein Industriegebäude mit alten Bauteilen aufgestockt. Und in Aarau eine ehemalige Reithalle in ein Konzert- und Theaterhaus transformiert.
Eine Umbaukultur führt zu vielschichtigeren Projekten, zu einer Architektur mit mehr Tiefe. Und sie begünstigt oft Lösungen und Räumen, die bei einem Neubau nicht möglich wären. BHSF Architekten haben in Bern ein Lagergebäude in ein Wohnhaus für die Genossenschaft Warmbächli umgebaut. So entstanden 4.5 Meter hohe Wohnräume, die sich zum Teil über zwanzig Meter durch das Gebäude erstrecken. Dabei war der Bestand kein Architekturjuwel. Doch nur schon seine Dimensionen haben neue Möglichkeitsräume eröffnet.
Künftig könnten auch die Baugesetze den Umbau begünstigen, zum Beispiel wenn für eine Baubewilligung auch die graue Energie des Bestandes miteinbezogen werden muss. So könnte nur noch abbrechen, wer besonders schonend baut. Auch dann wird es keine einfache Antwort geben auf die Frage: Abbruch oder nicht Abbruch? Wie auch immer diese ausfällt, sie sollte gut begründet sein. Denn allzu oft ruft die Bauherrschaft «Ersatzneubau», ohne überhaupt an Umbau zu denken.


Aktivistisch ausstellen
Das Schweizerische Architekturmuseum in Basel zeigt im September und Oktober eine Abriss-Ausstellung, die den üblichen Rahmen sprengt. Organisiert hat sie der Verein «Countdown 2030», den Architektinnen und Architekten vor drei Jahren in Basel gegründet haben und der für eine klimabewusste Baukultur kämpft. «Die Schweiz: ein Abriss» lautet der trockene wie bedrohliche Titel der Schau. Sie stellt keine Projekte oder Lösungen vor, sie will die Bevölkerung wachrütteln. Videos zeigen, wie das Bauwerk Schweiz rückgebaut wird. Balken und Kurven stellen die Kennwerte zu CO2 und Materialströmen dar. Am Schluss können die Besucher eine Petition unterzeichnen, die unter anderem den Abriss als Ausnahme fordert und die das Kuratorenteam nach der Ausstellung in Bern einreichen will.
Das Team hat mehrere Begleitaktionen ins Leben gerufen. Auf der Website abriss-atlas.ch kann jeder und jede ein Gebäude hochladen, dem der Abbruch droht. Plakate sollen auf Baustellen auf die Vorzüge des Umbauens und Sanierens hinweisen, Spaziergänge an verschiedenen Orten zu den abbruchbedrohten Bauten führen. «Countdown 2030» bauen eine partizipative, kollaborative, aktivistische Schau zwischen Internet, Museum und realer Welt. Damit spricht der Verein eine jüngere Generation an, die nicht Vorbilder und Lehrmeinungen sucht, sondern Debatten anstossen und die Welt verändern will.

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