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Hochparterre

Häuser öffnen

Der japanische Architekt Riken Yamamoto baut im grossen Massstab. Dabei denkt er über die Parzelle hinaus an die Stadt und die Gesellschaft. Nun erhält der den Pritzkerpreis. Ein Porträt.

Riken Yamamoto sitzt am anderen Ende der Welt in Yokohama vor dem Computer, im Gesicht eine Maske, im Hintergrund ein halbleeres Büro. Es ist Corona-Zeit, also sprechen wir via Videoübertragung – inklusive Simultanübersetzer. Riken Yamamoto antwortet ausführlich, überlegt, differenziert. Er ist kein Mann der markigen Sätze, der pauschalen Aussagen. Und doch: Zur Architektur gebracht haben ihn die grossen Pläne der Männer mit grossem Ego: Le Corbusier, Mies van der Rohe, Louis Kahn. «Ihre Ideen haben mich motiviert, als Architekt zu arbeiten.» Die Moderne habe gezeigt: Architekten können die Gesellschaft mit ihren Entwürfen entscheidend prägen.

Der Japaner kam 1945 auf die Welt. Studiert hat er in den 60er-Jahren, als jede Zukunft möglich schien. Für ihn ist klar: Architektinnen sollten starke Entwürfe, markante Gesten gestalten. Er verweist auf die Stadtplanungen von Le Corbusier in den 1920er-Jahren, die bis heute nachwirken. Viel utopische Ideen der Moderne wurden zwar belächelt oder kritisiert, meint Riken Yamamoto. «Trotzdem ist es die Pflicht der Architekten, solche radikalen Vorschläge zu machen, egal ob sie realisiert werden oder nicht.» Auch die Utopien aus Deutschland oder Frankreich aus dem 19. Jahrhundert übten heute noch einen grossen Einfluss aus auf die Baukultur, ist der Architekt überzeugt.

Der 75-jährige hat nicht nur grosse Ideen gezeichnet. Er hat sie auch gebaut: Universitätsbauten, Wohnsiedlungen und Museen in Japan, Südkorea oder China. Der Circle ist das erste Gebäude des Architekten ausserhalb Asiens. Die Baukultur sei eine andere in der Schweiz als in Japan, meint Riken Yamamoto. «In der Schweiz ist der Architekt angesehen und respektiert. In Japan hat der Beruf einen schwierigen Stand.» Der Grund dafür liegt in der Geschichte. Das Land, das sich nach über 200 Jahren Abschottung erst 1853 wieder zur Welt öffnete, wurde spät modernisiert. «Damals gab es den Beruf des Architekten oder Planers nicht, alle waren Handwerker.» Entworfen haben die Beamten die Gebäude selber. «Die grossen architektonischen Ideen haben es deshalb in Japan schwierig.» Als Beispiel nennt Riken Yamamoto das Stadion für die Olympischen Spiele in Tokio 2021, das das Architekturbüro von Zaha Hadid hätte bauen sollen. Doch 2015 begrub die Regierung die ursprünglichen Pläne und beauftragte den Architekten Kengo Kuma mit einem redimensionsierten Projekt.

Über die Parzelle hinausdenken

Neben den westlichen Architekten der Moderne setzte sich Riken Yamamoto mit den Baukünstlern aus seinem eigenen Land kritisch auseinander: Kazuo Shinohara, Toyo Ito, Tadao Ando. «Diese Autorenarchitekten haben schöne Häuser entworfen, die sich nach aussen aber meist geschlossen gaben.» Diese Haltung stellte Riken Yamamoto in Frage. «Viele Bauherren sind nur am Projekt interessiert», sagt er. «Die Privaten suchen den Profit, die öffentliche Hand schaut auf die Nutzung im Inneren.» Doch je grösser der Massstab, desto stärker wirkt sich das Projekt auf das Quartier, die Landschaft, die Gesellschaft aus. «Der Architekt muss deshalb die Umgebung miteinbeziehen und den Bauherrn überzeugen, damit der Einfluss seines Projekts nicht an der Parzellengrenze aufhört.» 

Die Überbauung «Jian Wai» in Beijing, die Riken Yamamoto 2004 fertigstellte, veranschaulicht sein Ziel. Der Bauherr bestellte wie viele in China eine Wohnsiedlung, die nach aussen abgeschottet ist, eine «gated community». Riken Yamamoto konnte ihn überreden, die Parzelle zu öffnen. Das Gebiet zwischen den Hochhäusern ist öffentlich zugänglich. Die Autos verkehren im Untergeschoss, die Fussgänger gelangen über ein Netz von Wegen, Plätzen und Brücken darüber zu den Hauseingängen. Hier sind auch Cafés, Läden oder Restaurants angesiedelt. Der Vorschlag sei damals in China radikal gewesen und habe die dortige Baukultur nachhaltig geprägt, meint Riken Yamamoto. «Auch der Bauherr verstand, dass diese Form der Urbanisierung besser ist für die Zukunft der Stadt.»

Ein Haus ohne Wände

Mit 30 Jahren gründete der Japaner sein Atelier in Yokohama. Bereits in seinem Erstlingswerk spielen die Themen Durchlässigkeit, Transparenz und Offenheit eine zentrale Rolle, obwohl es ein Einfamilienhaus war. 1977 baute Riken Yamamoto Mitten in einem Wald in den Bergen in Japan ein Sommerhaus. Da es nur in der warmen Jahreszeit benutzt wird, löste der Architekt den Grundriss radikal auf. Ein grosses Schrägdach überspannt einen offenen Raum. Die Küche, das Schlafzimmer oder das Bad sind als weisse Kuben darunter angeordnet. Das Haus verwischt die Grenze zwischen innen und aussen, zwischen privat und öffentlich, zwischen Architektur und Landschaft. 

Riken Yamamoto reizte der Widerspruch, ein Einfamilienhaus in Beziehung mit der Aussenwelt zu setzen. «Der Bauherr machte wenige Vorgaben, nach Fertigstellung war er aber begeistert», blickt er zurück. «Ich hatte Glück, am Anfang meiner Karriere auf einen so offenen Bauherrn zu treffen.» Das Projekt bestärkte den Architekten, auch an ausgefallene Ideen zu glauben. 45 Jahre lang lebte der Auftraggeber in dem Haus. Kürzlich kaufte Riken Yamamoto sein Erstlingswerk selber und gibt zu: «Dort zu wohnen ist nicht sehr komfortabel, aber es ist ein spezielles Erlebnis, das den Geist öffnet.»

Die Gedanken von Austausch und Öffnung bestimmen viele seiner Projekte. Die Universität in der japanischen Stadt Hakodate, gebaut 2000, öffnet sich mit einer riesigen Glasfassade zum Campus. Dahinter streckt sich der Raum über die ganze Höhe des Gebäudes und die Geschosse sind zurückgestaffelt wie eine Tribüne. Der monumentale Raum führt zu einem grossen Sehen-und-gesehen-werden, frei nach dem Motto der Universität: «Open space = open mind». 

Eine Siedlung in Pan-Gyo in Südkorea umfasst 34’000 Quadratmeter Wohnfläche. Der Architekt bricht den Massstab herunter, in dem er das Projekt in drei- bis viergeschossige Häuser auflöst, die er zu Clustern gruppiert. Eine Plattform im ersten Obergeschoss verbindet die Bauten, die auf diesem Stockwerk rund herum verglast sind. Der Raum dahinter dient als Atelier oder Büro. Vor allem aber wirkt er als Schaufenster, das die Nachbarn in Beziehung zueinander setzt.

Architektur ist Teil der Gesellschaft. Der Tsunami und die Reaktorkatastrophe in Fukushima 2011 stellten der Profession diese Fragen noch grundlegender. Riken Yamamoto gründete zusammen mit Kengo Kuma, Toyo Ito, Kazuyo Sejima und Hiroshi Naito die Gruppe «KISYN-no-kai», benannt nach den Initialen der fünf Architekten. Die Gruppe setzte sich zum Ziel, den Wiederaufbau voranzubringen, und entwarf dafür einen Prototyp. 

Eine Universität als offene Plattform

Architekten beeinflussen, wie wir leben, wohnen, arbeiten. Bei der Zokei Universität für Kunst und Design, die Riken Yamamoto in Nagoya in Japan plant, geht sein Gestaltungswille noch weiter. Die Universität beauftragte sein Büro, einen Neubau zu entwerfen. Nach dem ersten Vorschlag fragte ihn der damalige Präsident kurzerhand, ob er nicht auch gleich den Posten des Rektors übernehmen könnte. Der 75-jährige überlegte und sagte zu. Seit 2018 ist Riken Yamamoto in diesem Amt und entwirft nicht nur die Form, sondern auch den Inhalt der Schule. Die Departemente hat er in fünf Bereichen umorganisiert, deren Namen die Bedeutung der Gesellschaft unterstreichen. Die Fakultät Architektur und Innenarchitektur benannte er zum Beispiel zu «community area design» um. 

Das Gebäude lässt die Grenzen zwischen den Disziplinen offen. Eine 88 auf 88 Meter grosse Plattform spannt über einen Teil des Grundstücks, das wegen der U-Bahn darunter nicht überbaut werden kann. Die Grossstruktur nimmt im Raster von 8 Metern die Ateliers und Studios der Studentinnen auf. Die Fakultäten sind nicht genau zugewiesen, der Austausch soll offenbleiben. Das gilt auch im Erdgeschoss, wo eine breite Promenade durchs Gebäude verläuft. Die Strasse ist öffentlich zugänglich, es gibt Cafés, Restaurants und sogar kleine Läden, in denen die angehenden Modedesignerinnen ihre Arbeiten verkaufen können. Die Universität öffnet sich nach aussen und nach innen. Die Architektur liefert die Struktur dazu. 

Dieser Text stammt aus dem Buch «The Circle», das 2021 in der Edition Hochparterre erschienen ist.